Jetzt ist er sein eigenes Sprachrohr

Der Westdeutsche Holger Doetsch war Pressesprecher im DDR-Ministerium für Jugend und Sport – und wickelte die FDJ ab

Man merkt, dass der Mann einmal Pressesprecher war. Er artikuliert sich nahezu druckreif. Doch Holger Doetsch war nicht immer das Sprachrohr von Politikern. Zu Beginn seiner bunten beruflichen Laufbahn stand eine Ausbildung zum Bankkaufmann in Koblenz. In der Nähe ist er 1963 geboren worden. Dann ereilte ihn ein Ruf der örtlichen Rhein-Zeitung, was so nicht geplant war. Mit seinen regelmäßigen Leserbriefen hatte Doetsch die Wirtschaftsredaktion des Blattes auf sich aufmerksam gemacht. Er sagte zu und hatte einen neuen Beruf als Journalist. Die meisten Pressesprecher haben zuvor auf der anderen Seite des Schreibtischs gearbeitet.

Der 9. November 1989 läutete auch im Leben des damaligen Vorsitzenden der Jungen Union Koblenz (JU) eine radikale Wende ein. Holger Doetsch ging spontan in die DDR, um beim Aufbau demokratischer Strukturen zu helfen. Er hielt Seminare und Vorträge für Politiker: Wie macht man Wahlkampf? Was ist bei der Gestaltung eines Flugblattes zu beachten? Wie werde ich ein guter Rhetoriker? „Da waren wir uns übrigens mit den Jungsozialisten einig, dass etwas in dieser Richtung getan werden musste.“ Doetsch setzte durch, dass nur Bürgerrechtsparteien unterstützt wurden – und nicht etwa die „Blockflöte“ Ost-CDU.

Anfang 1990 schien seine Mission erfüllt zu sein. Holger Doetsch ging zurück nach Koblenz, wo er wieder bei der Rhein-Zeitung einsteigen konnte. Doch weit gefehlt: Kurz nach der ersten und letzten demokratischen Volkskammerwahl in der DDR, am 18. März 1990, ereilte ihn der zweite Ruf seines Lebens. Dieses Mal war Cordula Schubert am Telefon, die Ministerin für Jugend und Sport in der Regierung von Lothar de Maizière: „Ich habe mal eines Ihrer Seminare besucht. Können Sie sich vorstellen, für mich als Pressesprecher zu arbeiten?“ Holger Doetsch konnte sich das vorstellen und ging zurück nach Ost-Berlin – als Westdeutscher in der DDR-Regierung. „Wahrscheinlich bin ich bis heute der einzige Wessi mit einem Sozialversicherungsausweis der DDR.“

In Schuberts Ministerium erlebte der Koblenzer JU-Vorsitzende die wildeste Zeit seines bisherigen Lebens. „Ich hatte dort ein schweres Amt zu vertreten, weil wir zwei große Massenorganisationen abwickeln mussten – die „Freie Deutsche Jugend“ mit zwei Millionen Mitgliedern und den „Deutschen Turn- und Sportbund“ mit 10.000 hauptamtlichen Mitarbeitern.“ Um die Sportler tat es ihm leid, um die FDJ nicht. „Die haben diesen Staat ja maßgeblich mitgetragen.“ Als der Buschfunk meldete, dass bei der FDJ die Reiswölfe anliefen, fackelte Holger Doetsch nicht lange. Mit sechs Volkspolizisten an seiner Seite fuhr er in die FDJ-Zentrale Unter den Linden, setzte alle Funktionäre kurzerhand auf die Straße und ließ die Türen versiegeln. „Auf einen Gerichtsbeschluss konnten wir nicht warten – bis dahin wären längst alle Unterlagen geschreddert gewesen.“

Nach dem Beitritt der DDR war Doetschs Ost-Berliner Mission dann endgültig erfüllt. Wieder wartete ein Posten als Pressesprecher auf den Christdemokraten. Diesmal für die JU Deutschlands in Bonn – dank Helmut Kohl. Die heutige Bundeskanzlerin kennt er aus seiner bisher wildesten Zeit: Angela Merkel war 1990 stellvertretende Regierungssprecherin unter Lothar de Maizière. „Das ist eine tolle Frau.“ Im beschaulichen Bonn lief zunächst alles normal. Bis der SPIEGEL herausbekam, dass Holger Doetsch homosexuell ist. „Ich habe daraus noch nie einen Hehl gemacht; aber als der SPIEGEL mit dieser Geschichte rauskam, brach in Bonn die Hölle los. Der JU-Pressesprecher ist schwul!“

Dass die JU Oberbayern postwendend seinen Rücktritt forderte – geschenkt. Richtig wehgetan hat, dass ihm die meisten Parteigranden in den Rücken gefallen sind. Bis auf Rita Süssmuth, Norbert Blüm und Rainer Eppelmann, die ihm den Rücken gestärkt haben. „Schlimm waren auch diejenigen, die geschwiegen haben, obwohl sie selbst schwul und schon lange in Amt und Würden waren.“ Wer Doetsch bis dahin nicht kannte, lernte ihn nun schnell kennen. „Ich bin damals durch alle Talkshows in Deutschland getingelt – und alle waren verwundert, dass da ein ganz normaler Mensch saß, der sich nicht die Fingernägel lackiert.“

Trotz der heftigen Reaktionen auf sein Coming-out hatte Holger Doetsch von der Politik noch nicht die Nase voll. Vielmehr folgte er einem weiteren Ruf, der 1993 bei ihm einging. Jetzt war Thüringen am Apparat. Ministerpräsident Bernhard Vogel war auf der Suche nach einem Pressesprecher für die CDU-Landtagsfraktion. Die beiden kennen sich schon seit 1988. Doetsch packte die Koffer und zog nach Erfurt, wo er ein Jahr blieb. Der bisher letzte Ruf in Sachen Pressesprecher ereilte ihn 1994 aus Potsdam. Die CDU-Fraktion in Brandenburger Landesparlament brauchte dringend einen mit allen politischen Wassern gewaschenen Rhetoriker wie ihn. Der Rheinländer packte die Koffer und zog an die Havel.

1997 hatte Doetsch dann ein für alle Mal genug für seine Parteikollegen gesprochen, blieb aber in der Politik. Unter anderem als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Eppelmann, damals seines Zeichens Vorsitzender des Enquete-Kommission zur Aufarbeitung des SED-Unrechts. Den sechzehnteiligen Abschlussbericht des Gremiums wollte der Theologe Eppelmann unbedingt den vatikanischen Bibliotheken übergeben. Sein Mitarbeiter machte es möglich: Doetschs Bruder, ein katholischer Priester, war damals im Vatikan tätig. So kamen die Herren aus Berlin 2003 zu einer Audienz bei Papst Johannes Paul II.

In seiner Wohnung in der Elberfelder Straße ist Holger Doetsch von 3.000 Büchern umgeben. Zwei davon hat er selbst geschrieben. Zurzeit arbeitet er an einem Essay über das Thema „Religion und Gewalt“. Das Schreiben und seine Tätigkeit als Hochschullehrer für Journalismus, Öffentlichkeitsarbeit und Rhetorik liegt ihm näher als die Politik. Jetzt ist er sein eigenes Sprachrohr.

Veröffentlicht in: Moabit – Das Magazin für die Insel

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